Was soll man auch machen, wenn man schon alles gewonnen hat? Cla­rence See­dorf, im Haupt­beruf Fuß­baller, eröff­nete vor einigen Jahren ein japa­ni­sches Restau­rant in seiner Wahl­heimat Mai­land. Das GQ-Magazin lis­tete das »Finger´s« schon bald als eines der zehn besten japa­ni­schen Restau­rants der Welt. Also grün­dete Cla­rence See­dorf, im Nebenjob Restau­rant­be­sitzer, 2005 die »Cham­pions for Children Foun­da­tion«, eine all­ge­mein­nüt­zige Orga­ni­sa­tion, die sich für Kin­der­rechte ein­setzt. Nelson Man­dela ernannte See­dorf schon bald darauf als einen von fünf »Legacy Cham­pions«, eine Art Wohl­täter-Gilde, der unter anderem auch Bill Clinton ange­hört. Es wäre wohl nicht ver­messen zu behaupten, dass alles, was Cla­rence See­dorf anfasst, zu Gold wird. Und er hat noch lange nicht genug.

Wenn See­dorf heute Abend um 20:45 Uhr mit seinem AC Mai­land Real Madrid zum Grup­pen­spiel in der Cham­pions League emp­fängt, dann spielt der Hol­länder auch gegen ein Stück seiner eigenen Ver­gan­gen­heit. Vier Jahre, von 1996 bis 1999, stand er bei den »König­li­chen« aus Spa­niens Haupt­stadt unter Ver­trag. Vier Jahre, 121 Spiele und 15 Tore lang, um genau zu sein. Damals, Mitte der neun­ziger Jahre, galt See­dorf noch als junges Super­ta­lent. Mit nicht einmal 20 Jahren folgte der bul­lige Mit­tel­feld­mann mit den wilden Ras­ta­zöpfen dem Lockruf aus der Stadt, die ihn bereits als 15-Jäh­rigen ver­pflichten wollte. In der berühmten Nach­wuchs­aka­demie von Ajax Ams­ter­damm hatte sich See­dorf schon als Teen­ager einen Namen gemacht – auch weil er kör­per­lich längst kein Teen­ager mehr war. Bilder aus diesen Jahren zeigen einen schüch­ternden See­dorf beim Deutsch-Unter­richt und einen furcht­ein­flö­ßenden Fuß­ball­spieler beim Trai­ning und Wett­kampf.

Ein steifer Schwede rettet ihm das erste Jahr

Bis 1995 blieb See­dorf seiner Aus­bil­dungs­stätte treu, als Mit­glied jener wun­der­baren Ajax-Gene­ra­tion um Edgar Davids, Patrick Klui­vert und Edwin van der Sar fei­erte er 1995 im Wiener Ernst-Happel-Sta­dion den Gewinn der Cham­pions League – seinem ersten Erfolg auf inter­na­tio­naler Ebene.

Gerade voll­jährig wech­selt See­dorf 1995 ins Aus­land. Die erste Sta­tion heißt Sampdoria Genua. Und der Jung­spund, schon in der Jugend als der kom­mende Welt­star gefeiert, zahlt Lehr­geld. Es wäre ein ver­lo­renes Jahr gewesen, wenn da nicht ein immer etwas steif wir­kender Schwede am Sei­ten­rand gestanden hätte. »Sven-Göran Eriksson«, erin­nert sich See­dorf, »war wie ein Vater für mich. Er hat mir das Leben erklärt und mir dabei geholfen, im Aus­land über­leben zu können.« Eriksson rüstet seinen Schütz­ling mit den Waffen aus, die ihn später zu einem der meist gefürch­teten und respek­tierten Spieler der Welt machen. »Er hat mir gezeigt, wie man in Ita­lien Erfolg haben kann.« See­dorf lernt, die in der Heimat mit der Mut­ter­milch auf­ge­so­gene hol­län­di­sche Men­ta­lität nach und nach abzu­schleifen. »Bei uns heißt es immer: Wenn es ein Pro­blem gibt, lasst es uns dis­ku­tieren, bis wir wissen, was die Ursache für das Pro­blem ist. In Ita­lien dis­ku­tiert man nicht – son­dern rennt ein­fach weiter.« Schnauze halten, wei­ter­ma­chen. Schneller wurde der ita­lie­ni­sche Fuß­ball noch nie erklärt.

Die Kol­legen müssen ihm die Tränen trocknen

Bevor See­dorf die ita­lie­ni­schen Weis­heiten auch wirk­lich in Ita­lien aus­testen darf, ist er auch schon wieder weg. 1996 trocknet seine Unter­schrift auf dem Arbeits­ver­trag mit Real Madrid. Wenige Wochen zuvor mussten die Kol­legen aus der Natio­nal­mann­schaft seine Tränen trocknen. Im Vier­tel­fi­nale der Euro­pa­meis­ter­schaft gegen Frank­reich ver­schoss See­dorf im Elf­me­ter­schießen den ent­schei­denden Straf­stoß, Lau­rent Blanc traf und Hol­land flog aus dem Tur­nier.

Dem Selbst­ver­trauen des gebür­tigen Suri­na­mesen schadet das dra­ma­ti­sche Aus nur wenig. Am 19. Spieltag der Saison 1996/97 steht es zur Pause 1:0 für den Stadt­ri­valen Atlé­tico Madrid, in Reals Kabine geraten der 20-jäh­rige See­dorf und Trainer Fabio Capello anein­ander. Hin­terher berichten die Zei­tungen auf­ge­regt, der »Mister« soll dem auf­müp­figen Ein­kauf sein Jackett ins Gesicht geschmissen und gebrüllt haben: »Wenn du alles so gut weißt, dann mach du doch meinen Job!« Stimmt fast alles, erin­nert sich See­dorf Jahre später. Bis auf die Sache mit dem Jackett. »In der Halb­zeit standen wir Spieler bei­sammen und dis­ku­tierten über die Partie. Capello kam rein, fragte was wir da machen und brüllte gleich los. Also habe ich zurück gebrüllt. Er hat uns richtig wütend gemacht. Aber das war seine Art. Als wir wieder auf den Rasen laufen wollten, klopfte er mir freund­lich auf die Schulter. Wir gewannen noch mit 4:1 und ich schoss ein Tor.« Eriksson hat See­dorf gezeigt, wie die Fuß­ball-Welt tickt. Capello lehrt den Hoch­be­gabten, wie man sie erobert. »Er war sehr hart, sehr direkt, aber immer ehr­lich und damit für­sorg­lich. Ohne Zweifel der wich­tigste Coach meiner Kar­riere«, sagt See­dorf heute.

Capello, Heyn­ckes, Camacho, Hiddik, Toshack, del Bosque

1997 ver­lässt Capello den Verein, sein Nach­folger Jupp Heyn­ckes ver­passt zwar den erneuten Gewinn der natio­nalen Meis­ter­schaft, holt aber 1998 die Cham­pions League nach Madrid. Erst­mals seit 32 Jahren feiert sich das »Weiße Bal­lett« als beste Mann­schaft des Kon­ti­nents, später sogar als beste Mann­schaft der Welt: Im Welt­po­kal­fi­nale besiegt Real Vasco da Gama mit 2:1. Cla­rence See­dorf ist Cham­pions-League-Sieger. Schon wieder.

Heyn­ckes muss Madrid den­noch ver­lassen, und in der spa­ni­schen Haupt­stadt bre­chen unru­hige Zeiten an. Auf José Antonio Camacho folgt Guus Hiddink, auf Hiddink folgt John Toshack und auf Toshack folgt 1999 Vicente del Bosque. Der wird Real 2002 zwar wieder zum Cham­pions-League-Sieger formen, aber ohne Cla­rence See­dorf. Als nach der Jahr­tau­send­wende das große Fressen auf dem Trans­fer­markt beginnt und Real binnen kurzer Zeit die nam­haf­testen Fuß­baller des Pla­neten auf­kauft, sorgt See­dorf für eine ver­hält­nis­mäßig kleine Geld­spritze und wech­selt für 24,5 Mil­lionen Euro zu Inter Mai­land. Das Aben­teuer Ita­lien beginnt erneut.

Sein Gespür für Erfolg ist unschlagbar

See­dorf bleibt nur zwei Jahre bei Inter, macht 64 Spiele, acht Tore und wird trotzdem nicht glück­lich. Vor der Saison 2002/03 bietet der AC Mai­land einen Tausch an: Für die Dienste von See­dorf bietet der Lokal­ri­vale Ita­liens Natio­nal­spieler Fran­cesco Coco an. Der Deal funk­tio­niert. Und der AC Mai­land hat ein gutes Geschäft gemacht.

See­dorf übri­gens auch. Sein Gespür für den Erfolg erweist sich erneut als unschlagbar: 2003 gewinnt Milan ein lang­wei­liges Finale gegen Juventus Turin erst im Elf­me­ter­schießen und wird Cham­pions-League-Sieger. Wieder ver­schießt See­dorf einen ent­schei­denden Elf­meter, doch dieses Mal hat er Glück: Die Juve-Profis David Tre­ze­guet, Mar­celo Zalayeta, Paolo Mon­tero sind vom Punkt aus genauso mies. Im legen­dären »Old Traf­ford« feiert Milan seinen Titel und Cla­rence See­dorf einen Welt­re­kord: Noch nie zuvor hat ein Spieler mit drei ver­schie­denen Ver­einen die Cham­pions League gewonnen. See­dorf, streb­samer Schüler der Ajax-Aka­demie und der Lehr­meister Eriksson/​Capello, ist auf dem Gipfel ange­langt.

2003 hat er alle über­holt, selbst sein Idol. »Als ich 14 Jahre alt war, wollte ich so sein wie Frank Rij­kaard. Und ich wollte seine Titel, er hatte bereits zweimal den Lan­des­meister-Cup geholt«, erin­nert sich See­dorf, »eigent­lich wollte ich noch mehr: Erfolg­rei­cher sein als mein Idol.« Jetzt, mit gerade einmal 27 Jahren, hat er das Ziel erreicht. Kann es noch mehr geben, wenn man schon alles gewonnen hat? Es kann. Weil See­dorf es will. 

Was kommt nach Titel Nummer 4? »Nummer 5!»

»Wenn du Ambi­tionen im Leben hast, gibt es nie­mals genug zu gewinnen«, ant­wortet er auf die Rufe, die nach Titel Nummer drei laut werden. Was pas­siert? 2005 steht See­dorf erneut in einem Cham­pions- League-Finale. Zur Halb­zeit steht es 3:0 für Milan. In der Kabine ziehen die Kol­legen bereits die obli­ga­to­ri­schen Sie­ger­shirts unter das Trikot. Der Rest ist ein Aben­teuer und die Helden kommen aus Liver­pool. In einem atem­be­rau­benden Auf­hol­jagd errei­chen die »Reds« doch noch das Elf­me­ter­schießen und gewinnen die dra­ma­ti­sche Partie. Für See­dorf ist das ver­lo­rene 2005er-Finale den­noch »das beste Finale meines Lebens«. Erst­mals muss er mit der Pleite leben. Und schwört Revanche. 2007 schaffen die alten Herren aus Mai­land tat­säch­lich die Rück­kehr auf den euro­päi­schen Fuß­ball-Thron. Im End­spiel von Athen gewinnt Milan, aus­ge­rechnet gegen den FC Liver­pool, der sein Glanz­stück von 2005 nach der 2:0‑Führung durch Tore von Pippo Inz­aghi nicht wie­der­holen kann. Dirk Kuyt trifft nach 89 Minuten zum 1:2, drei Minuten später wird der wun­derbar auf­spielen Cla­rence See­dorf aus­ge­wech­selt und wieder eine Minute später pfeift Her­bert Fandel die Partie ab. Titel Nummer vier. Es ist unglaub­lich.

Ein Tor, der denkt, für See­dorf, den Hamster der inter­na­tio­nalen Szene, sei jetzt Schluss. Er will weiter sam­meln. »Bei Titel Nummer drei dachte ich: Schöne Sache, aber jetzt will ich Titel Nummer vier. Als ich den hatte, habe ich es ein paar Monate genossen. Jetzt will ich den nächsten Titel. Ich kann an nichts anderes denken«, sagt See­dorf.

Wie die Body­builder

Heute emp­fängt See­dorfs AC Real Madrid. Wäh­rend die Spa­nier die Som­mer­pause nutzten, um mit teuren Jung­spunden fri­sches Blut in die könig­li­chen Adern zu pumpen, setzt Milan mit wenigen Aus­nahmen weiter auf die alte Garde. Mit seinen 34 Jahren gehört Cla­rence See­dorf zwar zu den Ältesten im Kader, ist aber trotzdem nah am Alters­durch­schnitt (30+). Eigent­lich ist seine Zeit längst abge­laufen, auf seiner Posi­tion, im zen­tralen Mit­tel­feld, haben es Ü‑30-Fuß­baller schon immer schwer gehabt. Es ist nicht die kör­per­liche Schnel­lig­keit, die hat See­dorf eh nie aus­ge­zeichnet. Viel­mehr ist es geis­tige Geschwin­dig­keit, die bereits im Hin­spiel deut­lich machte, wie sehr sich Milan und Real in der Saison 2010/11 von­ein­ander unter­scheiden. Die Mus­kel­pa­kete Ronald­inho und See­dorf wirkten wie hüft­steife Body­builder gegen solch gewandte und flinke Ball­künstler wie Mesut Özil und Angel di Maria. Am Ende konnten die Ita­liener froh sein nur mit 0:2 vom Platz geprü­gelt worden zu sein.

Mit dem Cham­pions-League-Titel bringt man den AC in diesem Jahr schon gar nicht in Ver­bin­dung. Zu groß ist die Klasse der Kon­kur­renz, zu ver­altet und ver­braucht scheint der aktu­elle Mai­länder Kader zu sein. Cla­rence See­dorf hat längst keine wilden Ras­ta­zöpfe mehr. Man trägt jetzt Fleisch­mütze. Er sieht tat­säch­lich aus wie ein müder Krieger. Aber immer noch wie Krieger. Die rich­tigen Waffen für den Über­ra­schungs­an­griff bekam er einst von einem etwas steif wir­kenden Trainer aus Schweden. Wie er sie richtig ein­setzt, lehrte ihn sein ehe­ma­liger Trainer bei Real Madrid. Jetzt muss er beweisen, ob er noch in der Lage ist, sie zu benutzen.

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