Gut zwei Jahre ist das jetzt her. Dass Thomas Müller den Ball eroberte, irgendwo dort, wo es nicht ganz so wichtig war, aber das sah der Kol­lege Gegen­spieler ganz anders und fuhr die Stollen aus, hoch bis vor das Knie, mit vollem Anlauf und voller Wucht. Das Zivil­recht hat für solche Fälle den Straf­be­stand der vor­sätz­li­chen Kör­per­ver­let­zung defi­niert, der Fuß­ball die dun­kel­rote Karte. Aber Mar­celo da Silva Junior, der Abwehr­spieler von Real Madrid mit der Stark­strom­frisur, kam mit Gelb davon. Dazu muss man nichts sagen, das hat ja jeder gesehen“, sprach Müller später.

Am Diens­tag­abend sehen sich die beiden wieder. Im WM-Halb­fi­nale von Belo Hori­zonte, und für Müller fügt es sich nicht ganz so schön, dass er wohl auf dem rechten deut­schen Flügel stürmen und Mar­celo auf der linken bra­si­lia­ni­schen Seite ver­tei­digen wird. Der Ver­tei­diger Mar­celo steht für den Stil der Bra­si­lianer, für das Bekenntnis zur phy­si­schen Kom­po­nente des Spiels ohne Rück­sicht auf Ver­lust.

Fuß­ball in Bra­si­lien ist nur für Roman­tiker eine Fort­set­zung der Samba auf grünem Rasen. Fuß­ball ist hier zuerst Über­le­bens­kampf und danach Aus­druck von Schön­heit. Und genau so spielen die Bra­si­lianer auch. Es steht diese WM trotz aller über­ra­schenden und stür­mi­schen Ele­mente ein wenig im Schatten einer Bru­ta­lität, wie sie in dieser Form zuletzt 1962 in Chile zu besich­tigen war.

Der eng­li­sche Schieds­richter Ken Aston hat damals, nach dem Vor­run­den­spiel zwi­schen Ita­lien und Chile gesagt, er habe kein Fuß­ball­spiel gepfiffen, son­dern als Schlichter in mili­tä­ri­schen Manö­vern agiert. Ganz so schlimm ist es in Bra­si­lien nicht, aber die Ten­denz zur gewalt­tä­tigen Aus­ein­an­der­set­zung ist schwer­lich zu bestreiten. Und daran sind die Bra­si­lianer nicht ganz unschuldig.

Das Vier­tel­fi­nale gegen Kolum­bien wird vor allem wegen der Ver­let­zung des bra­si­lia­ni­schen Schön­geistes Neymar in Erin­ne­rung bleiben. Es war dies sicher­lich ein bru­taler Ein­griff, aller­dings kaum ein vor­sätz­li­ches Foul. Der Kolum­bianer Juan Zuniga hatte sein Knie zwar mit reich­lich Anlauf von hinten in Ney­mars zartes Kreuz gedrückt, aber Vor­satz war ihm dabei kei­nes­wegs zu unter­stellen.

Ney­mars Ver­let­zung war viel­mehr der Tief­punkt einer phy­si­schen Aus­ein­an­der­set­zung, sie wurde vor allem von den Bra­si­lia­nern geprägt. Es war der Tief­punkt des bisher unfairsten WM-Spiels. 54 Fouls zählten die Sta­tis­tiker, und die meisten davon begingen die Bra­si­lianer, näm­lich 31. Der Tor­hüter Julio Cesar sprang mit beiden Beinen voran in den Kolum­bianer Carlos Bacca, was einen Straf­stoß zei­tigte und wohl nur des­halb keine Rote Karte, weil er selbst den Schwer­ver­letzten gab und erst nach län­gerer Pause zum Ren­contre vom Elf­me­ter­punkt bereit war.

Die New York Times“ wähnte den bra­si­lia­ni­schen Stil als aus­schlag­ge­bend für die Gesetz­lo­sig­keit, in der Neymar ver­prü­gelt wurde“. Das mag ein wenig über­trieben klingen und trifft doch den Punkt. Bra­si­lien defi­niert sich bei dieser WM weniger über den Angriff als über die Ver­tei­di­gung. Über die Vie­rer­kette, die hinten dar­über wachen muss, dass der spär­liche Aus­schuss der angrei­fenden Kol­legen zum Über­leben reicht. Dabei geht es nicht um Ästhetik.

Daniel Alves, vor ein paar Jahren noch der welt­beste Offen­siv­ver­tei­diger, hat seinen Platz auf der rechten Seite mitt­ler­weile an den eher rus­ti­kalen Maicon ver­loren. Gefragt ist, was hart macht. David Luiz, in seiner Frisur dem Kol­legen Mar­celo nicht ganz unähn­lich, ist der bisher über­ra­gende Innen­ver­tei­diger des Tur­niers. Im Vier­tel­fi­nale aber bear­bei­tete er den Kolum­bianer James Rodri­guez mit einer Aggres­si­vität, wie sie für meh­rere Gelbe Karten gereicht hätte. Luiz sah keine ein­zige, und viel­leicht hat er sich dafür nach dem Spiel mit erho­benen Armen bei Gott bedankt.

Iro­ni­scher­weise erhielt sein Neben­mann Thiago Silva für ein ver­gleichs­weise harm­loses Ver­gehen die zweite Ver­war­nung. Der beste Ver­tei­diger der Welt“ (Real Madrids Trainer Carlo Ance­lotti) ist damit für das Halb­fi­nale gesperrt.

Nie­mand wird dem Links­ver­tei­diger Mar­celo die Klasse abspre­chen. Mar­celo ist gesegnet mit zwei bril­lanten Füßen, sein Speed auf der linken Seite ist atem­be­rau­bend, und Tore schießen kann er auch. Aber kör­per­liche Zurück­hal­tung ist seine Sache nicht. Vor dem Tritt gegen Thomas Müller hatte er im spa­ni­schen Cla­sico zwi­schen Real und dem FC Bar­ce­lona schon mal Cesc Fab­regas mit einer Links­rechts­kom­bi­na­tion beider Füße nie­der­ge­streckt, worauf eine Mas­sen­panik aus­brach, in deren Ver­lauf auch der Deut­sche Mesut Özil die Rote Karte sah.

Özil hat seinen Kol­legen Mar­celo damals mit Schweiß­perlen auf der Stirn und aus­ge­fah­renen Ellen­bogen ver­tei­digt, was vor dem Duell in Belo Hori­zonte in der Retro­spek­tive inter­es­sant ist, weil doch genau er zu den Spie­ler­typen gehört, die in Bra­si­lien kaum noch Zugang finden zum Spiel. Härte und Tempo for­dern ihre Opfer und finden sie in Ästheten wie Özil.

Der ehe­ma­lige Ästhet und jet­zige Fern­seh­kom­men­tator Mehmet Scholl hat sich dar­über ziem­lich auf­ge­regt und viel öffent­liche Beach­tung gefunden. In Deutsch­land. In Bra­si­lien, der Heimat des Jogo bonito, des schönen Spiels, inter­es­siert sich nie­mand für solche Mäke­leien. Die Torce­dores von Rio oder Sao Paulo oder Belo Hori­zonte waren mal die anspruchs­vollsten der Welt. Heute beju­beln sie Grät­schen und Befrei­ungs­schläge mit der glei­chen Laut­stärke wie Tore und Dribb­lings. Aber wann gibt es die schon mal zu sehen?

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